Prinzipien

Veröffentlicht in der Fachzeitschrift der Budo Akademie Europa „Budo International“, Ausgaben 65/2014 und 66/2015.

Die aus dem Prüfungsprogramm abgeleiteten Prinzipien der ATK-SV und ihre Bedeutung

Kai M. Jacobi

Die ATK-SV ist als reine Selbstverteidigung konzipiert. Die einen rechtswidrigen Angriff beendende und gesetzlich zulässige Verteidigung ist oberstes Systemziel. Stilprägendes Element der ATK-SV sind die einzelnen Techniken des Prüfungs-programms; diese stehen beispielhaft für die hinter der ATK-SV stehende Idee. Betrachtet man die Programmtechniken in ihrer Gesamtheit, lassen sich widerkehrende Prinzipien ableiten, mittels derer die Wirkungs- und Funktionsweise der ATK-SV abstrakt beschrieben werden kann. In diesem Sinne ist zu unterscheiden zwischen Systemprinzipien und Technikprinzipien.

1. Die Systemprinzipien der ATK-SV

Die Systemprinzipien beschreiben allgemeingültig Grundsätze, die zur Erreichung des Systemziels Anwendung finden sollen. Sie definieren also den übergeordnet geltenden Systemrahmen der ATK-SV.

1.1. Das Erfolgsprinzip

Oberste Maxime in der ATK-SV ist erfolgsorientiertes und effektives Handeln. Jede Aktion ist direkt darauf ausgerichtet, einen rechtswidrigen Angriff schnell zu beenden und die eigene Gefährdung so gering wie möglich zu halten. Eine ATK-Technik ist im erlaubten rechtlichen Rahmen zweckgebunden, direkt und wirkungsvoll; erlaubt ist dabei, was hilft und dem Verteidigungserfolg dienlich ist.

1.2. Das Nachhaltigkeitsprinzip

In der ATK-SV ist die körperliche Verteidigung das letztmögliche Mittel zur Konfliktlösung, das erst dann zum Tragen kommt, wenn alle anderen Vermeidungsstrategien nicht zum gewünschten Erfolg geführt haben. Ist der Kampf aber unvermeidbar, so bedeutet nachhaltige Verteidigung in diesem Sinne konsequentes Vorgehen bis zur Beendigung des Angriffs unter Verwendung aller Körperwaffen und ggf. sonstiger zur Verfügung stehender Mittel. Ein Loslassen oder Zurückweichen im Verteidigungsfall kommt nicht in Betracht; vielmehr wird sich mit vollem Einsatz verteidigt, bis von dem Angriff keine Gefahr mehr ausgeht. Einfach ausgedrückt bedeutet das Nachhaltigkeitsprinzip: Wenn, dann richtig!

1.3. Das Effizienzprinzip

Das der ATK-SV enthaltene Effizienzprinzip besagt, dass der Verteidigungserfolg auf möglichst einfachem Wege erreicht werden soll. Das bedeutet im Einzelnen wenig Kraftaufwand und einfache und ökonomische Bewegungsabläufe bei der Durchführung der ATK- Techniken unter Gewährleistung des beabsichtigten Erfolges; alles Überflüssige und Komplizierte wird weggelassen. Dementsprechend verzichtet die ATK-SV auf diffizile Hebeltechniken und komplexe Würfe. Eine ATK-Technik orientiert sich an den natürlichen Bewegungsabläufen, ist daher in der Regel leicht lern- und durchführbar und auch unter Stress leicht abrufbar. In der Notwehrsituation ist so entschlossenes Handeln möglich. Auf den Punkt gebracht lautet das Effizienzprinzip: Minimaler Aufwand und maximaler Erfolg.

1.4. Das Universalprinzip

Die Reaktionszeit auf einen Angriff verlängert sich zwangsläufig mit zunehmender Zahl der zu treffenden Entscheidungen. Konkret bedeutet das: je höher die Technikauswahl im Verteidigungsfall, desto schwieriger die Entscheidungsfindung desto langsamer die Reaktion. Die in der ATK-SV verwendeten Technikelemente sind daher in der Regel gegen eine Vielzahl von Angriffen universell einsetzbar und wirksam. Verwendet werden ausgesuchte Techniken mit großer Wirkung, die gleichzeitig vielseitig anwendbar sind. Der begrenzte Technikfundus erleichtert die Entscheidungsfindung und verkürzt die Reaktionszeit. Darüber hinaus automatisieren sich Bewegungsabläufe durch regelmäßige Übung gleicher Bewegungen. Die ATK-SV setzt also auf Reduktion, d.h. auf sorgfältige Auswahl der einzelnen Verteidigungselemente, kurz ausgedrückt auf „Qualität statt Quantität“.

1.5. Das Jedermann-Prinzip

Die in der ATK-SV eingesetzten Technikelemente sind so konzipiert, dass sie von den meisten Personen gegen die meisten Personen eingesetzt werden können. Sie wirken also im Idealfall von jedermann gegen jedermann bzw. lassen sich durch kleinste Veränderungen an die eigenen körperlichen Gegebenheiten sowie die des Angreifers anpassen ohne ihre Wirkungsweise zu verlieren. Neben dem Universalprinzip ist das Jedermann-Prinzip das Prinzip, das entscheidend zur Verkürzung der Entscheidungsprozesse und damit zum Erfolg der Verteidigungshandlung beiträgt.

1.6. Das Kontrollprinzip

Die durchgehende Kontrolle des Angreifers ist wesentliches Merkmal der ATK-SV. Daher beinhalten die Techniken in der Regel einen durchgängigen Verteidigungsansatz von der ersten Abwehrreaktion bis zur Neutralisierung des Angriffs. Ist die Distanz zum Angreifer überbrückt und direkter Kontakt aufgenommen, bleibt dieser von der ersten Verteidigungshandlung bis zur Beendigung des Angriffs bestehen, was die dauernde Kontrolle des Angreifers ermöglicht. Wenn möglich, wird ein einmal gewählter Griff nicht mehr gelöst, sondern konsequent bis zur Beendigung des Angriffs beibehalten. Ist ein Übergang zu einer weiteren Technik erforderlich, werden Verteidigungslücken, die der Angreifer ausnützen könnte, vermieden.

1.7. Das Schlussprinzip

Das in der ATK-SV enthaltende Schlussprinzip berücksichtigt, dass es mehrere Möglichkeiten gibt, eine Verteidigung abzuschließen bzw. einen Angriff zu beenden. Vorgesehen sind die Beendigungen durch Atemi-, Festhalte- oder Transporttechniken. So sind die ATK-Griffe in der Regel so konzipiert, das das abschließende Festhalten am Boden oder das Transportieren des Angreifers möglich ist. Das Prüfungsprogramm enthält auch eine Reihe von Transport- und Festhaltegriffen, die bei Bedarf angewandt werden können. Bei der Verteidigung gegen bewaffnete Angriffe beinhaltet das Schlussprinzip immer auch das Entwaffnen des Angreifers.

1.8. Das First-Strike Prinzip

Das deutsche Notwehrrecht lässt auch eine Verteidigung gegen einen unmittelbar bevorstehenden Angriff sowie die Nothilfe zu. Das bedeutet, dass ein ausschließlich auf Verteidigungshandlungen beschränktes SV-System die Möglichkeiten des rechtlich Zulässigen nicht vollständig ausschöpft. Um einen umfänglichen Verteidigungsansatz zu gewährleisten, beinhaltet die ATK-SV auch eine Reihe von Angriffsaktionen. Diese kommen im Wesentlichen in Situationen zur Anwendung, wenn es darauf ankommt, einem unmittelbar bevorstehenden Angriff zuvorzukommen, werden aber auch eingesetzt, um aktiv einen gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriff von einem Dritten abzuwehren.

2. Die Technikprinzipien der ATK-SV

Die Technikprinzipien beschreiben konkret die praktische Umsetzung der Systemziele unter Berücksichtigung der Systemprinzipien. Aufgezählt werden hier nur die spezifischen und grundlegenden Technikprinzipien der ATK-SV; allgemeingültige „Budo-Prinzipien“ wie z.B. der Gleichgewichtsbruch oder das Ausnutzen der Hebelwirkung gegen Gelenke des Angreifers gelten natürlich auch in der ATK-SV, werden aber in die nachfolgende Betrachtung nicht weiter einbezogen.

2.1. Einsatz aller Körperwaffen insbesondere der Handkralle

In der ATK-SV werden alle zur Verfügung stehende Körperwaffen – Hand, Ellenbogen, Fuß, Knie – zur Verteidigung eingesetzt. Zu den technischen Besonderheiten des Systems gehört die Verwendung der Handkralle. Diese eher unkonventionelle Handhaltung wird über das Schlagen, Fassen und Reißen hinaus auch in der Grundstellung vor einem Angriff und während des Angriffs beim Abblocken eines Schlages eingesetzt. Der Einsatz der Krallenhand erlaubt Schläge mit dem Handballen, dem Handrücken der Handkante sowie den Handknöcheln. Darüber hinaus werden kräftige Reiß- und Drucktechniken, ein schnelles Fassen und Ballen zur Faust ermöglicht. Der Vorteil der Krallenhand zeigt sich deutlich bei dem für die ATK-SV typischen Schockschlag zur Kehle des Angreifers, bei dem gleichzeitig auch gegen die Kehlkopfnerven gedrückt wird. Der Angreifer wird durch diese Schlag/ Griffkombination nahezu sofort außer Gefecht gesetzt. Eine derart effektive Technik kann nur mit der Krallenhand durchgeführt werden. Die Vielseitigkeit der Handkrallen wird noch dadurch erhöht, dass sie die Mittelstellung zwischen der offenen und der geschlossenen Handhaltung (Faust) ist. Ein schnelles Wechseln von der einen zur anderen Handhaltung ist daher problemlos möglich. Damit verschließt sich die Krallenhand den anderen Handhaltungen nicht. Im Gegenteil, die Hand wird zu einem effektiven Werkzeug, das in der Verteidigung aber auch im Angriff je nach Bedarf zweckgebunden eingesetzt werden kann.

2.2. Ausnutzen empfindlicher Körperstellen insbesondere Nervendruckpunkte

Die besondere Effektivität der ATK-SV wird ermöglicht durch das gezielte Ausnutzen bestimmter Schwachstellen des menschlichen Körpers durch Schlag, Druck oder Zug. Zentrale Angriffspunkte sind Nervenzentren (z.B. Solar Plexus), zentrale Nerven (z.B. Nervus Trigeminus) und ungeschützte empfindliche Körperstellen (z.B. Augen, Ohren, Kehle, Unterleib). Entscheidendes Kriterium für die in der ATK-SV verwendeten empfindlichen Körperstellen sind die leichte Erreichbarkeit und hohe Schmerzempfindlichkeit. In diesem Sinne sind die ATK-SV relevanten empfindlichen Körperstellen unabhängig Kleidung erreichbar und wirken bei jedermann.

2.3. Schnelle Distanzüberbrückung

Zu den grundlegenden Bewegungen in der ATK-SV gehören die Eingänge. Bei den Eingängen handelt es sich um direkte, gradlinige Vorwärtsbewegungen die im Wesentlichen zur Distanzüberbrückung aber auch als Ausweichbewegung genutzt werden. Sie ermöglichen eine schnelle Annährung an den Angreifer und gewährleisten eine bestmögliche Stellung für Folgetechniken, die dann ebenfalls schnell und unmittelbar ausgeführt werden können. Die ATK-SV unterscheidet zwischen einfachen und doppelten Außeneingängen sowie den Inneneingängen. Die einfachen Außeneingänge werden genutzt um einem Schlag oder Tritt auf die sichere Außenseite des Angreifers auszuweichen und gleichzeitig in die Nahdistanz zu wechseln. So ist die Kombination von Außeneingang mit einer kreisförmigen Bewegung eines der fundamentalsten und am häufigsten verwendeten Bewegungsmuster in der ATK-SV. Die doppelten Außeneingänge dienen der Distanzüberbrückung aus der Ferndistanz in die Nahdistanz; gewährleistet wird eine schnelle und direkte Annährung an den Angreifer mit bestmöglicher Positionierung an der sicheren Außenseite des Angreifers. Die Inneneingänge dienen vorwiegend der Wurfvorbereitung. Darüber hinaus finden die Eingänge auch bei den Angriffsaktionen der ATK-SV Anwendung.

2.4. Kopfkontrolle

Eine Verteidigungshandlung bzw. eine Angriffsaktion, die gegen den Kopf des Angreifers gerichtet ist, hat psychisch und physisch eine extrem hohe Wirkung, da der der Kopf in der Regel ungeschützt und an einigen Stellen besonders empfindlich ist. Die Kontrolle des Kopfes durch konsequentes Ausnutzen der zugänglichen empfindlichen Körperstellen ist daher ein ganz zentrales und von anderen Systemen abgrenzendes technisches Prinzip der ATK-SV, das im Rahmen der Programmtechniken in nahezu allen Stadien der Verteidigung angewandt wird. So ermöglicht die in der ATK-SV praktizierte Kopfkontrolle insbesondere das „zu Boden bringen“ in alle Richtungen, aber auch das Festhalten sowie das Transportieren des Angreifers. Das kreisförmige zu Boden bringen erfolgt u.a. in Verbindung mit einem Fassen an Haaren oder Ohren und Reißen des Kopfes nach hinten bei gleichzeitigem Griff in die Kehlnerven; das Herunterbringen nach vorne durch einen Schlag mit der linken Krallenhandkannte in den Nacken und Griff mit der rechten Hand in die Haare des Angreifers. Beim Herunterbringen nach hinten wird der Kopf des Angreifers nach hinten so überstreckt, dass ein Stehenbleiben nicht mehr möglich ist. Bei Durchführung der ATK-Würfe und im Bereich der Angriffsaktionen spielt die Kopfkontrolle ebenfalls eine zentrale Rolle. Häufig verwendeter technischer Ansatz beim Festhalten ist der Griff in die Kehle in Verbindung mit dem Fixieren des Kopfes am Boden („Kehlkopfnervenpresse“) oder das Überstrecken des Kopfes nach hinten. Mittels durchgehender Kopfkontrolle wird ein umfassender SV-Ansatz von der Verteidigung bis zum Festlegen bzw. Abtransport des Angreifers gewährleistet (Kontrollprinzip). Das in den Techniken des Prüfungsprogramms verankerte zentrale technische Prinzip lautet vereinfacht ausgedrückt: Kopfkontrolle bedeutet Körperkontrolle.

2.5. Kreisförmige Bewegungen

Wie bereits erwähnt, verzichtet die ATK-SV – abgesehen von wenigen Ausnahmen („Fußwürfe“) – auf klassische und vom Bewegungsablauf eher komplexe Würfe aus dem Judo/Jiu-Jitsu. Vielmehr wird der Angreifer oftmals durch Durchführung von kreisförmigen Bewegungen „zu Boden gebracht“. Durch das dadurch bedingte Wirken von Zentrifugal- und Zentripetalkräften werden die Standfestigkeit und das Gleichgewicht des Angreifers gebrochen. Besonders typisch für die ATK-SV ist in diesem Zusammenhang das kreisförmige zurückgehen mit dem linken Bein in Kombination mit einem Griff in die Kehle.

2.6. Körperabbiegen

Das Körperabbiegen nach hinten ist als Technikprinzip auf vielfache Weise im Prüfungsprogramm verankert und daher für die ATK-SV von besonderer Bedeutung. In Kombination mit der Kontrolle des Kopfes ist dieses Prinzip in erster Linie – so wie die kreisförmige Bewegung – ein technisches Mittel, den Angreifer zu Boden zu bringen. Durch Überstrecken des Kopfes und der Wirbelsäule wird der Angreifer aus dem Gleichgewicht gebracht und nach hinten abgesetzt. So gebraucht findet es sich im Prüfungsprogramm sowohl im Bereich der Verteidigungstechniken als auch im Bereich der Angriffsaktionen. Darüber hinaus wird das Prinzip insbesondere beim Festlegen aber auch beim Transportieren angewendet und deckt damit das gesamte Spektrum der ATK-SV ab. Die Systemprinzipien werden hier besonders beispielhaft umgesetzt.

3. Die prinzipienorientierte Verteidigungsstrategie der ATK-SV

Die dargestellten Prinzipien werden in den Programmtechniken in einem oftmals wiederkehrenden Bewegungsmuster umgesetzt, aus dem sich die grundsätzliche Verteidigungsstrategie der ATK-SV ableiten lässt. Diese prinzipienorientierte Verteidigungsstrategie kann schematisch wie folgt dargestellt werden:

Schnelle Distanzüberbrückung – Kopfkontrolle – zu Boden bringen – Abschluss.

4. Fazit

Die hier vorgenommene Betrachtung der Programmtechniken in ihrer Gesamtheit zeigt, dass die ATK-SV auf definierbaren Prinzipien und einer grundsätzlichen Verteidigungsstrategie beruht. Insbesondere die konsequente Beachtung der System- und Technikprinzipien führt in der Regel zu einer ATK-Technik. So kann anhand der aufgestellten Prinzipien eine Überprüfung von freien bzw. selbst entwickelten Techniken auf ihre „ATK-Konformität“ vorgenommen und das System so weiterentwickelt werden. Dabei ist in erster Linie entscheidend, dass Technik und neue Ansätze in dem durch die Systemprinzipien gesetzten Rahmen bewegt, also die Kriterien „erfolgsorientiert“, „effizient“ usw. erfüllt. Diese Prinzipien bilden daher das dogmatische Fundament des Systems. Die technischen Prinzipien hingegen müssen sich nicht zwingend alle in einer Technik wiederfinden. Sie können einzeln verwendet oder aber auch miteinander kombiniert werden. Die hier vorgenommene Aufzählung der Technikprinzipien ist darüber hinaus keinesfalls als abschließend zu betrachten; vielmehr können die Systemprinzipien auch durch andere – nicht im Programm verwendete – Technikprinzipien verwirklicht werden. In diesem Sinne ist auch eine Umsetzung der dargestellten Prinzipien durch eine andere Verteidigungsstrategie denkbar. Insoweit ist die ATK-SV ein dynamisches und sich entwickelndes System.